Ein Praxistag bei der „Sozialstation“

Reichelsheim
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1995 wurde mit der Unterzeichnung der Satzung des Zweckverbandes der Grundstein für die heutige „Sozialstation – Mittlere Wetterau“ gelegt. Was damals klein begann, ist heute zu einem Erfolgsmodell der ambulanten Pflege geworden. 240 Bürgerinnen und Bürger werden von 44 Mitarbeiterinnen im Rahmen von 18 unterschiedlichen Touren umsorgt.

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Die vier Kommunen, Echzell, Florstadt, Reichelsheim und Wölfersheim machten sich damals gemeinsam auf den Weg, um das Satzungsziel „den Bedarf in der ambulanten Kranken-, Alten- und Familienpflege auf Dauer abzudecken“.

Kürzlich machten sich Bürgermeisterin Lena Herget-Umsonst und Sabine Springer früh morgens ebenfalls auf den Weg – sie packten gemeinsam früh morgens das weiße Auto mit blauer Aufschrift „Sozialstation“. Treffpunkt war der Stützpunkt der Sozialstation in der Weckesheimer Glück Auf-Straße. Ihr gemeinsames Ziel: die Route „Reichelsheim 3“ und insgesamt 13 sie erwartende „Klienten“. Im Regelfall werden morgens bis zu 20 und abends bis zu 35 Wohnungen pro Tour angesteuert.

„Bei meinem Antrittsbesuch Anfang Februar hatte ich versprochen, sobald es die Infektionslage zulasse, einen Praxistag in der Sozialstation zu absolvieren“, sagt Herget-Umsonst. „Als Vorstandsvorsitzende möchte ich nicht nur die neuen Räumlichkeiten besichtigen, Quartalsberichte und Haushaltspläne studieren, über Neueinstellungen und Ausbildungsmöglichkeiten entscheiden, sondern mir auch einen Eindruck von der konkreten Arbeit der Mitarbeiterinnen verschaffen. Ich möchte nicht nur über Pflege sprechen, sondern sie auch erleben“, so Herget-Umsonst weiter. „Es gibt nichts Wichtigeres als den Blick in die Praxis, das Gespräch mit den Menschen, die diese wertvolle Arbeit für uns leisten und einen ganz unmittelbaren Eindruck von dem Arbeitsalltag zu bekommen“, sagt die Bürgermeisterin.

Sabine Springer, examinierte Krankenschwester, ist seit September 2017 im Team der Sozialstation. Sie wurde der Bürgermeisterin als Mentorin für den Praxistag an die Seite gestellt. „Das Team ist unbezahlbar. Eine richtig gute Stimmung, ein toller Zusammenhalt“, freut sich die 43-Jährige, für die ihr Job eine Herzensangelegenheit zu seien scheint.

Für Sabine Springer beginnt der Tag um 06:30 Uhr mit dem Zusammenstellen der benötigten Schlüssel – auf Basis einer computergesteuerten Verwaltung - und der Materialien. Der Einsatzplan wird geprüft, das Handy mit dem Einsatzplan eingesteckt. Direkt danach belädt sie mit Bürgermeisterin Herget-Umsonst das Auto für die Tour. Immer mit dabei FFP2 Masken, Handschuhe und Desinfektionsmittel. Um Punkt sieben ist Abfahrt.

„Guten Morgen, hier kommt die Sozialstation“, begrüßt Sabine Springer, um 07:04 Uhr ihre erste Klientin, die bereits alles für den Besuch vorbereitet hat – eine kleine Süßigkeit liegt für die Zeit nach dem Anziehen der Kompressionstrümpfe direkt bereit. „Ich habe heute unsere Bürgermeisterin mit dabei. Ich arbeite sie ein. Ab nächster Woche kommt sie dann alleine“, scherzt die Pflegefachkraft. Die Abläufe laufen routinemäßig und schnell, aber nicht stressig für die Klienten ab. Drei Minuten sind für das Anziehen der Strümpfe vorgesehen. Alles wirkt vertraut. Noch ein kurzes Gespräch und schon geht es mit dem Auto weiter zum Haus von Klientin Nummer zwei – hier werden Strümpfe und ein Korsett – mit dem witzigen Hinweis „Ich mach Dich jetzt falten-frei“ angezogen und ein Pflaster geklebt. Die nächste Klientin begrüßt mit den Worten: „Ich habe Euch schon gesehen. Schön, dass ihr da seid“. Sie wünscht Sabine Springer, die kurz vor ihrem Sommerurlaub steht, eine gute Zeit: „Wenn Engel reisen, kann’s Wetter doch nur schön werden“. Bei dem vierten Einsatz erinnert um 07:38 Uhr das erste Mal das Handy, dass die Zeit aufgebraucht ist – die Tour muss fortgesetzt werden. „Ich habe ein gutes Zeitgefühl, aber die Erinnerungsfunktion ist dennoch hilfreich“, so Springer. Vor und nach jedem Einsatz werden die Hände gründlich desinfiziert. Sabine Springer spricht jeden Klienten freundlich an – ihr Lächeln ist trotz der Maske, in ihren Augen zu sehen und es scheint sprichwörtlich anzustecken. „Was liegt heute noch so an bei Ihnen an? Wie geht es Ihnen? Wie war der Geburtstag, auf dem Sie kürzlich waren?“, die persönliche Ansprache kommt trotz der Taktung und minutengenauen Zeiteinteilung pro Pflegedienstleistung nicht zu kurz. Manche Klienten werden aufgrund bestehender Beziehungen und einer jahrelangen Vertrautheit geduzt – aus der pflegefachlichen Sichtweise heraus wird jedoch das „Sie“ bei der Ansprache bevorzugt.

Der nächste Einsatz ist mit einer halben Stunde der längste – auf dem Programm stehen Duschen, Rasieren und Eincremen. Der Mann scherzt: „Welch Glanz in meiner Hütte. Heute Abend erzähle ich meinem Sohn, dass die Bürgermeisterin mich geduscht hat“. Das Duschen hat natürlich Sabine Springer, die sichtlich unter der Maske ins Schwitzen gekommen ist, übernommen; die Bürgermeisterin hält diskret Abstand, obwohl die Menschen kaum Berührungsängste haben und nicht selten zu hören ist: „Sie können gerne näherkommen“. Weiter auf dem Plan steht nun das Verabreichen einer Langzeit-Insulin-Spritze und das Überprüfen der Medikamenten-Liste, bevor es weiter geht. In dem nächsten Haus ist noch alles dunkel. Sabine Springer nimmt direkt den Weg in das Schlafzimmer, kurz darauf hört man: „Guten Morgen. Na Sonnenschein, hast du ausgeschlafen? Heute ist Donnerstag und das Wetter ist herrlich“. Sabine Springer hilft beim Aufstehen und führt die Dame in das Bad, wo sie sie nach dem gemeinsamen Toilettengang wäscht und anzieht. Eine neue Windel wird angezogen, der Frühstückstisch mit Kaffee und Marmeladen-Brot gedeckt. Das Bett wird aufgeschüttelt, das Fenster gekippt, das Wasser zur Medikamenteneingabe ausgegossen, die Augen werden getropft, das Radio wird angeschaltet. Der nächste Klient braucht eine noch intensivere Pflege – er kann sein Bett nicht mehr verlassen. Alle Pflegeleistungen, Katheter wechseln, Rasieren, Fingernägel schneiden, Waschen, finden auf engstem Raum innerhalb des Krankenbettes statt. Spätestens hier sieht man ganz deutlich, dass dieser Beruf nicht nur seelisch, sondern auch körperlich belastend ist. Es bedarf geübter Handgriffe, um den Mann bewegen zu können. Nach drei weiteren Klienten steht dann um 11:00 Uhr eine 10-minütige Pause an – Zeit zum Durchatmen, Zeit für einen Kaffee und ein kurzes Gespräch unter Kolleginnen. Ihren Arbeitstag beendet Sabine Springer nachdem sie die Schriftlichkeiten und die Vorbereitung der nächsten Tagestour vorgenommen hat, um 13:00 Uhr.

Sabine Springer und ihre Kollegen scheinen zu einem wichtigen Bestandteil des Lebens der Menschen geworden zu sein. Sie geben ihnen einen Tagesrhythmus, eine direkte Ansprache und natürlich die benötigte Hilfe und Unterstützung. Sie helfen auch, wenn der Wecker nicht funktioniert oder beraten, wenn der Familienbesuch die alltägliche Routine der Klienten auf den Prüfstand stellt.

„Die Menschen, die wir auf der Tour erleben durften, waren dankbar, zufrieden mit „ihrer Schwester Sabine“ und brachten ihr und ihrem Job echte Wertschätzung entgegen“, resümiert Herget-Umsonst, die sich vornimmt diesen erlebten Tag bei all ihren zukünftigen Entscheidungen in Erinnerung zu rufen. „Heute durfte ich erfahren, wie Pflege mit Leidenschaft für die Menschen gelebt wird. Für diese besondere Erfahrung bin ich sehr dankbar. Ich werde meinen Beitrag dazu leisten, dass dieses Erfolgsmodell sich kontinuierlich weiterentwickeln kann“, so die Bürgermeisterin abschließend.

Foto: Bürgermeisterin Lena Herget-Umsonst und Sabine Springer von der Sozialstation im Einsatz. Bild: ©Stadt-Reichelsheim – Andrea Fourier



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